Mainz (ots) –
Die staatliche Hilfe für Gewaltopfer hat im vergangenen Jahr einen neuen historischen Tiefpunkt erreicht. Die Versorgungsämter lehnten 47,3 Prozent aller Anträge auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz ab, noch mehr als im Minus-Rekordjahr 2021 (46,6 Prozent). Das geht aus der jährlichen Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer. Auch die Antragsquote ist so schlecht wie noch nie: Sie liegt nur noch bei 7,6 Prozent im Vergleich zu den erfassten Gewalttaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik (15.021 Anträge, 197.202 Taten). Im Vorjahr waren es noch 9,1 Prozent, was auch schon der zweitniedrigste Wert seit Erfassung der Zahlen war.
„Es ist ein Trauerspiel“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Jedes Jahr veröffentlichen wir die aktuellen Zahlen zur Opferentschädigung, jedes Jahr mahnen wir bei Politik in Bund und Ländern Verbesserungen an – und trotzdem müssen wir im Folgejahr regelmäßig neue Negativrekorde vermelden.“ Der Staat lasse jedes Jahr Tausende Menschen hilflos zurück, die unverschuldet in Not geraten seien, so Biwer.
Mit dem 1976 verabschiedeten Opferentschädigungsgesetz (OEG) verpflichtet sich der Staat, Opfer von Gewalttaten, wie etwa Körperverletzung, häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch, zu unterstützen. Sie sollen vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat geschützt werden, der Staat soll laut Gesetz zum Beispiel Kosten für medizinische Behandlungen oder Rentenzahlungen übernehmen.
Wenn die Behörden wie im vergangenen Jahr fast 50 Prozent der Anträge abgelehnt haben, dann bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass die andere Hälfte der Opfer Hilfe bekommen hat: Nur gut ein Viertel der Entschädigungsanträge (26,2 Prozent) wurde von den Ämtern genehmigt – auch das ist ein Tiefstand. Einzig im Jahr 2019 lag die Anerkennungsquote noch niedriger.
Die übrigen Antragsteller blieben ohne Hilfe: 26,5 Prozent der Anträge bekamen in den Behörden den Stempel „erledigt aus sonstigen Gründen“. Sonstige Gründe können zum Beispiel der Tod des Antragstellenden, die Weitergabe des Falls in ein anderes Bundesland oder die Rücknahme des Antrags durch den Betroffenen sein.
Die Zahl der Erledigungen aus sonstigen Gründen hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Der WEISSE RING geht davon aus, dass sich hinter dieser Zahl zu einem großen Teil Anträge verbergen, die von den Opfern zurückgezogen werden. „Wir wissen aus unseren Recherchen, dass zahlreiche Betroffene durch jahrelange Verfahren, Begutachtungen und die damit verbundenen psychischen und finanziellen Belastungen zermürbt sind“, sagt Bundesgeschäftsführerin Biwer. Eine bundesweit einheitliche Erfassung über die Rücknahmegründe gibt es bislang nicht.
Die Analyse der Zahlen aus dem vergangenen Jahr stützt die Erkenntnisse zur Umsetzung des OEG, die die Redaktion des WEISSEN RINGS durch eine umfassende Recherche gewonnen und 2022 als #OEGreport im Magazin „Forum Opferhilfe“ und im Internet veröffentlicht hat: www.forum-opferhilfe.de/oeg. Dazu gehören auch die zum Teil sehr großen Unterschiede in der Entscheidungspraxis der Bundesländer: Die Ablehnungsquote reichte im vergangenen Jahr von 36,6 Prozent in Niedersachsen bis zu 63,6 Prozent in Schleswig-Holstein, das im Bundesvergleich auf dem letzten Platz landete.
Zum 1. Januar 2024 wird die Opferentschädigung im Sozialgesetzbuch XIV neu geregelt, was zahlreiche Verbesserungen für Betroffene zur Folge haben soll. Der WEISSE RING hat sich mehr als zehn Jahre lang für diese Novellierung des Gesetzes eingesetzt. „Die Verantwortung dafür, dass die neuen Reglungen auch tatsächlich die gewünschte Wirkung entfalten können, liegt nun bei den Landesparlamenten und Landesregierungen“, mahnt Bianca Biwer. „Gesetzliche Verbesserungen helfen nur, wenn sie bei den Opfern auch ankommen.“
Hinweis: Sachsen arbeitet derzeit in enger Abstimmung mit dem WEISSEN RING an einer qualitativen Auswertung der OEG-Zahlen und hat deshalb für 2022 keine Zahlen geliefert. (Zahl der gestellten Anträge 2021: 445.)
Der WEISSE RING wurde 1976 in Mainz gegründet als „Gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten e. V.“. Er ist Deutschlands größte Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität. Der Verein unterhält ein Netz von rund 2.700 ehrenamtlichen, professionell ausgebildeten Opferhelferinnen und -helfern in bundesweit 400 Außenstellen, beim Opfer-Telefon und in der Onlineberatung. Der WEISSE RING hat mehr als 100.000 Förderer und ist in 18 Landesverbände gegliedert. Er ist ein sachkundiger und anerkannter Ansprechpartner für Politik, Justiz, Verwaltung, Wissenschaft und Medien in allen Fragen der Opferhilfe. Der Verein finanziert seine Tätigkeit ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und testamentarischen Zuwendungen sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängten Geldbußen. Der WEISSE RING erhält keinerlei staatliche Mittel.
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